„Putin versucht das kulturelle Gedächtnis der Ukraine zu zerstören“

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Im Interview spricht Osteuropa-Expertin Franziska Davies über den Krieg in der Ukraine und was wir aus unserer Vergangenheit lernen können.

Jeden Dienstag folgen 500 Teilnehmende Ihren Vorträgen zur Geschichte der Ukraine – und die Warteliste ist lang. Hatten Sie mit dieser Resonanz gerechnet?

Über dieses Interesse freue ich mich wirklich sehr. Die Reihe war ja ursprünglich als private Veranstaltung geplant, und wurde dann vom Deutschen Historischen Institut Warschau ins Programm aufgenommen und gehostet. Für mich ist das Format neu, und durchaus ein Experiment. In den bis Mitte Juli insgesamt zehn Vorträgen gebe ich einen Überblick von den Ursprüngen der ukrainischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, im Anschluss an die Vorträge beantworte ich Fragen aus dem Chat. Das Bedürfnis nach Informationen ist offenbar groß, das zeigen die vielen Rückmeldungen, die ich nach den Vorlesungen erhalte.

Wie erleben Sie diesen Krieg?

Was wir in der Ukraine sehen, erinnert viele Historikerinnen und Historiker an Zeiten, die sie nur aus Quellen kennen. Das ist erschütternd. Terror gegen die Zivilbevölkerung, gezielte Gewalt gegen die Eliten einer Nation, Feinbildkonstruktionen – das alles sind Phänomene, die wir aus der Geschichte kennen. Jetzt werden wir selbst Zeugen eines imperialistischen Angriffskrieges, angeführt von der Staatspropaganda in den Medien.

Hatten Sie damit gerechnet?

Viele Expertinnen und Experten haben diese Entwicklung sehr klar vorausgesehen, auch Polen und die baltischen Staaten warnen schon lange sowie die Ukraine selbst natürlich. Für viele Historikerinnen und Historiker kam dieser Krieg nicht überraschend, auch für mich nicht. Mit einem so umfassenden Totalangriff, auch auf die Westukraine und Kyjiw hatte ich allerdings nicht gerechnet. Das hat mich doch sehr erschreckt. Wenn man die Region so gut kennt und enge Beziehungen zu Menschen dort hat, berührt einen dieser brutale Vernichtungskrieg natürlich zutiefst. Meine Position ist aber ganz klar, ich bin zu 100 Prozent solidarisch mit der Ukraine und setze mich für eine konsequente politische und militärische Unterstützung des Landes ein.

Vor fast 15 Jahren waren Sie als DAAD-Stipendiatin in St. Petersburg. Auf Twitter schrieben Sie, dass Sie jetzt oft an diese Zeit denken – woran speziell?

Schon damals fing das mit den Hasskampagnen in den Staatsmedien an, das ist mir sehr in Erinnerung geblieben. Damals ging es gegen die Esten, weil sie das Denkmal des sowjetischen Soldaten an den Stadtrand verlegt hatten. Heute sehen wir, was dieser Hass in der russischen Gesellschaft angerichtet hat. Zu Beginn des Krieges hatte ich die kleine Hoffnung, die Mütter der russischen Soldaten könnten sich auflehnen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Viele stacheln ihre Söhne an oder feiern ihre Taten.

Wie stark ist die antiukrainische Stimmung in der russischen Bevölkerung ausgeprägt?

Wie groß die Unterstützung für Putins Krieg ist, lässt sich aktuell nicht einschätzen. Es wird Aufgabe künftiger Generationen von Historikerinnen und Historikern sein, das herauszufinden. Natürlich ist es in Russland gefährlich, sich politisch zu äußern. Aber man muss diesen Krieg nicht auch noch ausdrücklich im Staatsfernsehen unterstützen, dazu wird niemand gezwungen. Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, dass anti-ukrainische Stereotypen in der russischen Gesellschaft verbreitet sind bzw. dass von Ukrainerinnen und Ukrainern eine Unterordnung unter Russland erwartet wird. Die Wurzeln dafür gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Insofern kann man davon sprechen, dass es ein bestimmtes Bild der Ukraine gab, das Putin mit seiner Propaganda mobilisieren und radikalisieren konnte. Aber auch hier gilt: wir brauchen zu dieser Frage soziologische Studien. Für fast genauso wichtig halte ich die Frage, wen die Ereignisse in der Ukraine überhaupt interessieren. Viele in der russischen Gesellschaft scheinen dem Krieg vor allem gleichgültig gegenüber zu stehen, ihr Alltagsleben führen sie weiter. Aber Menschen haben Verantwortung für das, was in ihrem Staat geschieht. Was Wegsehen anrichten kann, das kennen wir auch aus der Geschichte.

Seit Jahren engagieren Sie sich weit über die universitäre Lehre hinaus. Was gab den Anstoß?

Die Annexion der Krim 2014 war ein Auslöser, damals bezeichnete ein ehemaliger Bundeskanzler die Ukraine als „künstliche“ Nation und erhielt dafür viel Beifall. Seitdem versuche ich über Vorträge in Volkshochschulen oder auch kleinere publizistische Aufsätze, Interesse für die Entwicklungen in Osteuropa zu wecken. Traurig ist, dass es einen Krieg brauchte, um diese Aufmerksamkeit zu schaffen.

Eines Ihrer zentralen Themen ist die Russifizierung – was ist darunter zu verstehen?

Bis heute wird die Sowjetunion immer wieder mit Russland gleichgesetzt. Diese Russifizierung Osteuropas geht bis ins 19. Jahrhundert zurück und blieb für die deutsche Russlandpolitik im 20. und 21. Jahrhundert prägend, aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs heraus gab es einen tiefen Wunsch nach Versöhnung. Mir ist es ein Anliegen zu zeigen, dass nicht nur Russland Opfer des deutschen Vernichtungskrieges war, sondern auch Länder wie die Ukraine und Belarus. Die Sowjetunion war ein multiethnischer Staat, das wurde lange völlig ausgeblendet. Bis heute ist vom „Russlandfeldzug“ die Rede, oder vom „Iwan“ – allein diese Begriffe zeigen, wie stark der Krieg im Osten bis heute mit Russland verbunden wird. Dabei waren Regionen wie die Ukraine oder Belarus Hauptschauplätze der deutschen Vernichtungsfeldzüge. Selbst Soldaten der Wehrmacht, die dort kämpften, war oft nicht bewusst, dass sie nicht in Russland waren.

Welche Rolle spielen Erinnerungskulturen in diesem Zusammenhang?

Eine meiner Aufgaben als Osteuropa-Historikerin sehe ich darin, wissenschaftliche Erkenntnisse zum deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa in die breitere Öffentlichkeit zu tragen. Das ist auch der Grund, warum ich mit meiner Kollegin Katja Makhotina ein Buch über „Die offenen Wunden Osteuropas“ geschrieben habe. Es soll vor allem außerhalb von Fachkreisen eine Leserschaft finden – das ist zumindest unsere Hoffnung. Wir sind an Erinnerungsorte des Zweiten Weltkriegs gereist, haben dort recherchiert und mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen gesprochen. Wir erzählen Geschichten, die zeigen, wie Menschen Krieg und Besatzung erlebt haben. Diese Stimmen sind viel zu lange nicht gehört worden.

Ein Kapitel widmet sich den Massenmorden in Babyn Jar, im März wurde die Holocaust-Gedenkstätte bei einem Angriff beschädigt.

Babyn Jar ist ein hochsymbolischer Ort in Europa, den jeder gesehen haben sollte. Etwa 65 000 Menschen wurden hier umgebracht. Es ist unerträglich, dass in der Ukraine Bomben auf Gedenkstätten fallen, Zeitzeugen beschossen werden und ums Leben kommen. Das ist ein Angriff nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf das kulturelle Gedächtnis des Landes. Putin will die Ukraine als Staat zerstören, deshalb werden auch Archive gezielt beschossen – im Juli wollte ich eigentlich nach Kyjiw reisen und dort in den Sammlungen forschen. Nach meinen Erfahrungen in Russland hatte ich für mein Habilitationsprojekt bewusst die Entscheidung getroffen, den Schwerpunkt auf Ostmitteleuropa zu legen, um notfalls auch ohne russische Archive arbeiten zu können. Es beschäftigt sich mit den Streiks und Arbeitskämpfen in Polen, Großbritannien und der Sowjetukraine in den 1980er und 1990er Jahren und soll damit west- und osteuropäische Perspektiven in der Geschichte zusammenbringen. In Russland kann man inzwischen als Ausländerin kaum noch wissenschaftlich arbeiten.

Im Moment ist das Interesse an Osteuropa groß, was erwarten Sie in der Zukunft?

Unser Blick auf Osteuropa ist oft von einer gewissen Geringschätzung geprägt, insofern hoffe ich auf einen grundlegenden Wandel in der Wahrnehmung. Mit unserem Buch liefern wir keine Faktensammlung, sondern regen dazu an, unsere durchaus kolonialistische Sicht zu hinterfragen. Dass man die Ukraine erst jetzt entdeckt, spricht im Grunde für sich. Dabei gibt es eigentlich so viele Bezüge zum östlichen Europa –  viele Menschen sind ja hier. Sie pflegen unsere Eltern, wir essen den Spargel, den sie stechen. Es muss ein aufrichtigeres Interesse an ihren Lebensgeschichten und ihren Ländern geben.

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