Drei Fragen zu nachhaltiger Entwicklung: Ziel 4 – Hochwertige Bildung

Agenda 2030
SDG Ziel 4: Hochwertige Bildung
Ulf Matysiak
Ulf Matysiak © 1041 Inc.

Wir sprachen mit Ulf Matysiak von Teach First Deutschland über gerechte und hochwertige Bildung in Deutschland. Ulf ist der geschäftsführende Gesellschafter der gemeinnützigen Organisation, die seit ihrer Gründung im Jahr 2009 Kinder in Brennpunktschulen unterrichtet. Ihre Bemühungen um die Rekrutierung und Ausbildung von Universitätsabsolvent:innen, die Seite an Seite mit Lehrer:innen arbeiten, sind jedes Jahr für über 5000 Schüler:innen entscheidend, von denen viele sonst die Schule abbrechen oder ohne Abschluss verlassen würden.

1014: Sind junge Menschen in Deutschland im Hinblick auf das nachhaltige Entwicklungsziel 4 „Hochwertige Bildung“ von Benachteiligungen bei der Bildung betroffen?

Ulf Matysiak: Bildung und Zugang zu hochwertigem Unterricht und Lernen sollten als Grundrecht gelten. In Wirklichkeit aber ist das Erhalten einer guten Bildung in Deutschland eine Frage des sozioökonomischen Hintergrunds der jeweiligen Familie: Zugang zu guten Schulen und Erfolg in der Schule hängen davon ab, wo deine Familie lebt, wie viel deine Eltern verdienen und welche Bildung sie haben. Diese Herausforderungen summieren sich häufig zu Hürden, die Kinder nicht alleine überwinden können. Derzeit sind jedes Jahr 17-20% der Schüler:innen in Deutschland dem Risiko ausgesetzt, arbeitslos zu werden – weil sie die Schule abbrechen, ihren Schulabschluss mit niedriger Punktzahl machen oder nach dem Verlassen der Schule keinen Übergang in einen Beruf oder eine Lehre finden. Wir müssen unser Bildungssystem so anpassen, dass alle Kinder dazu befähigt werden, aktive Bürger:innen zu werden und eine Zukunft aufzubauen, die nicht auf der Biografie ihrer Eltern, sondern auf ihrem eigenen Potential basiert.

1014: Teach First Germany schickt Hochschulabsolventinnen, so genannte Fellows, in die Schulen – wie sieht deren Arbeitsalltag aus?

Ulf Matysiak: Die Fellows von Teach First Deutschland arbeiten mit Neunt- und Zehntklässler:innen an Brennpunktschulen und bereiten sie darauf vor, mit einer Qualifikation abzuschließen, die mindestens dem Hauptschulabschluss entspricht. Unsere Fellows arbeiten zwei Jahre lang mit zwei Klassen und etwa fünfzig Schüler:innen. Ihre Ziele: Keine/r bricht ab, jede/r besteht die Abschlussprüfung und alle verlassen die Schule mit einer sinnvollen Perspektive für ihre weitere Ausbildung oder ihr Berufsleben.

Der typische Tag unserer Fellows umfasst das Vorbereiten von Stunden, Unterricht, Lernbetreuung und außerschulische Aktivitäten. Das fängt mit der ersten Stunde zwischen 7:30 und 8:15 Uhr an und endet zwischen 16 und 18 Uhr. Fellows übernehmen Teile des Unterrichts oder unterrichten Lerngruppen in Mathematik, Sprachen oder Naturwissenschaften. Als Hilfslehrer:innen unterstützen sie Lehrer:innen im Klassenzimmer bei Übungsphasen und Projekten sowie bei der Entwicklung von Unterrichtsmaterial. Wenn sie alleine unterrichten, sind die Fellows für die Entwicklung von Arbeitsplänen und Hausaufgaben verantwortlich. Nach der Schule arbeitet jede/r Fellow an einem Projekt, das ihre Schüler:innen in die Lage versetzt, neue Erfahrungen zu machen. Diese Projekte sind so unterschiedlich wie der Hintergrund unserer Fellows: manche bauen Mars Rover, andere schreiben Theaterstücke oder stellen ein Fußballteam zusammen. Da Fellows in ihren Schulen eine Sonderstellung einnehmen, haben sie mehr Zeit und Gelegenheit, mit Schüler:innen und ihren Eltern außerhalb der regulären schulischen Umgebung Kontakte aufzubauen.

1014: Was sollte in einer idealen Welt in Deutschland und anderswo getan werden, um das UN-Ziel 4, „inklusive, gerechte und hochwertige Bildung zu gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle zu fördern“, zu erreichen?

Ulf Matysiak: In der Schule geht es heutzutage um mehr als Noten und akademisches Wissen. Es geht darum, unseren Kindern die Fähigkeiten zu vermitteln, mit denen sie die globalen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft bewältigen können. Wir sind gut beraten, über Kinder aus ärmeren Familien und benachteiligten Verhältnissen nicht mehr als Objekte unserer Wohltätigkeit zu sprechen. Was wir stattdessen brauchen, sind neue Generationen selbstbewusster, positiver, zielstrebiger Individuen, die für Veränderungen sorgen: Menschen, die gewillt sind, Probleme anzugehen und Lösungen zu entwickeln. Wir können es uns schlicht nicht leisten, ein Fünftel unserer Kinder von der Teilnahme an der Verwandlung unserer Gesellschaften auszuschließen. Um sie an Bord zu bringen, müssen wir sicherstellen, dass Schulen und Entscheidungsträger:innen die grundlegenden Erfordernisse und Potentiale wirklich verstehen, die diese Kinder mitbringen, z.B. indem das Unterrichten in Brennpunktschulen zu einem obligatorischen Schritt in der Laufbahn von Direktor:innen wird. Lehrer:innen und Pädagog:innen müssen über die nötigen Führungsinstrumente verfügen, um unter herausfordernden Umständen Herausragendes zu leisten.

Wenn wir sicherstellen, dass alle Schüler:innen, Lehrer:innen und Schulen – unabhängig von sozialer Schicht oder Schulabschluss – Zugang zu denselben Ressourcen haben, können wir anfangen, wirklich über gerechte und hochwertige Bildung in Deutschland zu sprechen.

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