Über die Notwendigkeit einer transformativen Wissenschaft

Visualisierung: Mann schreitet durch Betontor in eine bessere, grünere Welt
© GettyImages/NiseriN

Als im März 2020 die Coronapandemie in kürzester Zeit das gesellschaftliche Leben in Deutschland zum Erliegen bringt, geschieht etwas Erstaunliches. Wissenschaftler:innen rücken ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung, ihre Expertise ist gefragt wie selten zuvor. Gebannt verfolgt die Republik die täglichen Pressekonferenzen des Robert-Koch-Instituts, mit Spannung werden die Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina erwartet. Virolog:innen sind gefragte Gäste in Talkshows.

Die verstärkte Präsenz von Wissenschaftler:innen im öffentlichen Diskurs schlug sich auch im nieder, das jährlich das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft misst. Wenige Monate nach Beginn der Pandemie stieg das Vertrauen sprunghaft in zuvor ungekannte Bereiche an. Zugleich stimmten im Barometer über 80 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass politische Entscheidungen im Umgang mit Corona auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen sollten.

Derartige Ergebnisse mögen auf den ersten Blick nicht besonders überraschend wirken. Doch wenn wir sie in den Kontext einer anderen großen Entwicklung unserer Zeit stellen, darf man sich verwundert die Augen reiben. Im Hinblick auf den Klimawandel warnen Wissenschaftler*innen seit den 1980er-Jahren vor drastischen Veränderungen, sollte sich unsere Art zu wirtschaften nicht schleunigst ändern. Auch Lösungsansätze wie erneuerbare Energien oder Verringerung des Konsums tierischer Produkte werden seit Jahrzehnten diskutiert.

Bei Corona hofiert, im Klimaschutz oft ignoriert

Doch geändert hat sich bis heute wenig. Im Gegenteil – fast jedes Jahr werden neue Höchstwerte beim CO2-Ausstoß gemeldet, Autos verbrauchen immer mehr Sprit, der Fleischkonsum sinkt allenfalls zögerlich. Was läuft hier schief? Warum werden wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen über Jahrzehnte hinweg so konsequent ignoriert und teils (Stichwort Donald Trump) sogar gezielt in Frage gestellt?

Das sind große Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Einen möglichen Erklärungsansatz bietet das in der Wissenschaft weit verbreitete Verständnis davon, wie das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik funktioniert. Häufig mit Speaking truth to power umschrieben, besteht die Rolle von Wissenschaft demnach darin, der Politik neues Wissen zu liefern. Aufgabe der Politik ist es dann, auf Grundlage dieser Erkenntnisse Gesetze zu erlassen, die Gesellschaft und Wirtschaft so steuern, dass gesellschaftliche Ziele erreicht werden.

Klingt bestechend einfach, hat in der Realität aber einen gewichtigen Haken: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht der einzige Faktor, der politische Entscheidungen beeinflusst. Ebenso spielen Erwartungen der Bevölkerung, Interessen der Wirtschaft und politische Dynamiken eine wichtige Rolle. Reines Wissen ist dann ein Faktor unter vielen, der in manchen Fällen den entscheidenden Ausschlag geben kann (Beispiel Corona), in anderen aber das Nachsehen gegenüber anderen Faktoren hat (Beispiel Klimawandel).

Eine transformative Wissenschaft mischt sich ein

Vor diesem Hintergrund wird seit einigen Jahren unter dem Stichwort einer transformativen Wissenschaft diskutiert, wie Wissenschaft eine aktivere Rolle in der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen einnehmen kann. Zentrale Annahme dabei ist, dass Wissenschaft und Gesellschaft deutlich enger zusammenarbeiten müssen, als es bisher in der Regel der Fall ist.

So sollten wissenschaftliche Ergebnisse nicht erst nach Abschluss der Forschung an die Bevölkerung oder Politik kommuniziert werden, sondern gesellschaftliche Akteure bereits bei der Definition der Forschungsfragen – also noch bevor die eigentliche Forschung beginnt – mit einbezogen werden. So soll von Anfang an die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass das produzierte Wissen auch tatsächlich den Weg in die praktische Umsetzung findet und gesellschaftliche Veränderungen anstößt.

Doch so schön das klingt – gerade laufen viele Dynamiken und Logiken des Wissenschaftssystems einer solch gesellschaftsbezogenen Wissenschaft noch zuwider. Staatliche Forschungsmittel fließen zum überwiegenden Teil in die Entwicklung von Technologien für die Industrie. Hochschulen sind streng nach Disziplinen organisiert und erschweren so interdisziplinäres Arbeiten. Und als „gute Wissenschaftler:innen“ gelten oft noch immer die, die viele Artikel in hochrangigen Journals publizieren.

Die Selbsttransformation der Wissenschaft

Daher hat der Begriff der transformativen Wissenschaft noch eine zweite Dimension: Er fordert auch die Wissenschaft selbst dazu auf, die eigenen Praktiken und Institutionen kritisch zu hinterfragen: Welche tragen zu einer aktiveren Rolle der Wissenschaft bei und welche sind eher hinderlich? Nur wenn die Wissenschaft sich in Teilen auch selbst transformiert, kann sie den hohen Ansprüchen einer transformativen Wissenschaft gerecht werden.

Durch die eingangs erwähnten Phänomene schafft Corona aktuell ein Gelegenheitsfenster, um grundlegend über das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu reflektieren: Welche Rolle sollten wissenschaftliche Erkenntnisse spielen, und wo liegt vielleicht auch eine Grenze, jenseits derer Wissenschaft nicht in den Bereich der Politik vordringen sollte? Und was bedeuten diese Diskussionen für unsere eigene Arbeit, sei es in der Wissenschaft, der Politik, der Zivilgesellschaft oder der Wirtschaft?

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