Warum digitale Barrierefreiheit unser aller Business ist

  • 2024-02-23
  • Gastbeitrag von Alumna Aigul Zhalgassova
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Mann bereitet sich darauf vor, Untertitel für das auf seinem Smartphone laufende fremdsprachige Video herunterzuladen.
© Getty Images/Debalina Ghosh

Früher war digitale Barrierefreiheit für mich kein Thema. Grundsätzlich eine gute Sache, aber betrifft mich nicht, dachte ich. Als Nutznießer der digitalen Barrierefreiheit kamen mir eher Menschen mit starken Beeinträchtigungen in den Sinn. Wie zum Beispiel Angelika. Ich habe sie bei einer Reha kennengelernt. Angelika kann nicht sehen und lässt sich Nachrichten im Text-Messenger vom Handy vorlesen und schreiben. Über die Wetterprognose oder den Busfahrplan informiert sie ein virtueller Sprachassistent. 

Meine Illusion einer Welt voller Menschen ohne Behinderungen verpuffte, als ich selbst nach einer Ohrenentzündung schwer hören konnte. Auf einmal war ich dankbar für die Untertitel in Webkonferenzen. Auf einmal erfuhr ich von vielen anderen in der Firma, die schwerhörig, farbenblind oder motorisch eingeschränkt waren. Ich fragte mich: Was ist, wenn digitale Hürden für viele oder sogar für uns alle ein Problem darstellen? 

Was ist überhaupt eine Behinderung?

Viele Menschen denken, Barrierefreiheit sei nur für Menschen relevant, die eine Behinderung haben. Doch was bedeutet das überhaupt? Bei einem Vortrag von Annett Farnetani, einer Expertin für digitale Barrierefreiheit, wurde mir klar, dass der Begriff viel mehr umfasst als ich dachte. Wenn Menschen einen Gehstock benötigen oder im Rollstuhl sitzen, ist die Behinderung sofort sichtbar. Psychische Erkrankungen wie Depression oder Burnout sind dagegen unsichtbar. Solche unsichtbaren Behinderungen hatte ich selbst gar nicht im Blick. Dabei betreffen sie fast 28 Prozent der deutschen Bevölkerung oder knapp 18 Millionen Erwachsene. 

Den größten Aha-Moment erlebte ich jedoch, als Annett über temporäre und situative Behinderungen sprach. Gebrochene Hände, Augenoperation, Trauer, Liebeskummer und viele andere Ausnahmezustände können zur Folge haben, dass Personen digitale Produkte nicht wie gewohnt nutzen können. Ich denke an alle frisch gebackenen Eltern, die trotz Schlafmangels elektronische Formulare bei Ämtern oder ihren Arbeitgebern ausfüllen müssen. 

Auch der unvermeidbare Umstand, dass wir älter werden, ist ein Argument für digitale Barrierefreiheit. Denn ob wir es wollen oder nicht, Fähigkeiten wie Hören, Sehen, Tippen oder Dinge auffassen lassen mit zunehmendem Alter nach. Mein Vater hört mit Mitte Sechzig auf einem Ohr nicht mehr. „Das ging aber schnell“, sagt er und wundert sich, dass er plötzlich so ein Problem hat. Alternde Gesellschaften sollten sich besonders auf diese Entwicklung einstellen - auch und in erster Linie im digitalen Bereich, da unser Leben inzwischen überwiegend dort organisiert wird. 

Innovation durch digitale Barrierefreiheit

„Ich höre oft in Akquise-Gesprächen, dass Barrierefreiheit die Usability zerstört. Das stimmt nicht“, sagt Farnetani, die eine Agentur für barrierefreie digitale Produkte führt. Aus ihrer Sicht ist ein webbasiertes Produkt, das für Menschen mit oder ohne Behinderung zugänglich ist, ein gutes Produkt für alle Nutzer. Ein wichtiges Kriterium für die digitale Barrierefreiheit ist ein interaktives Design: Texte können vergrößert werden, Überschriften von Screenreadern gelesen werden, Medien haben Untertitel oder eine Transkription.

Sind diese – heute selbstverständlichen – Funktionen nicht für alle ein Gewinn? Bei einer schlechten Internetverbindung können wir mindestens eine Bildbeschreibung lesen. Bei wenig Licht vergrößern wir den Text oder ändern den Farbkontrast. Im Liegen dreht sich die App und passt sich unserer Position an. Unterwegs schauen wir die Videos ohne Ton und mit Untertiteln an.

Innovationsmuster wiederholen sich

Schon frühere Innovationen auf dem Gebiet der Kommunikation waren zunächst nur für bestimmte Nutzer:innen gedacht, wurden dann aber zum allgemeinen Standard. Die Erfinder der ersten Schreibmaschinen wie Pellegrino Turri oder Karl Drais etwa wollten ihren erblindeten Freund:innen und Familienmitgliedern die Kommunikation erleichtern. Der „Vater der E-Mail“, Vinton G. Cerf, ist schwerhörig und suchte nach einer Möglichkeit, sich schriftlich auszutauschen. Auch die automatische Wortergänzung von Suchmaschinen war ursprünglich ein Angebot für Menschen mit motorischer Behinderung. „Die Barrierefreiheit ändert das Produkt. Es wird besser, da vielmehr Nutzer*innen es bedienen können“, so Annett Farnetani.

Hören wir auf, Barrieren zu bauen

Aus der Diskussion nach dem Vortrag von Annett ist mir eine Wortmeldung hängen geblieben. Eine Person sagte, dass wir Barrieren nicht abschaffen sollten, sondern diese gar nicht erst aufbauen sollten. Das hat mich wie ein Blitz getroffen. Wenn wir Straßen von vorneherein mit Rampen für Rollstühle und Kinderwagen bauen, oder wenn wir in jedem Gebäude barrierefreie WCs einplanen, dann werden wir keine Barriere abschaffen müssen. Sie werden nie da gewesen sein.

So verhält es sich auch bei der digitalen Architektur. Wenn Produktentwickler:innen ihre Angebote so gestalten, dass möglichst viele Menschen sie nutzen können, dann ist das Problem nicht mehr existent. Jede Person soll frei entscheiden können, ob sie eine Webseite besuchen oder ein digitales Produkt kaufen möchte oder nicht. Es soll nur ums Wollen gehen, nicht ums Können. Das ist die wahre Barrierefreiheit.

Mit der Kennzeichnung „Gastbeitrag“ weisen wir darauf hin, dass die Verfasserin bzw. der Verfasser nicht Mitglied unserer Redaktion ist. Gastbeiträge stammen in der Regel von Alumni und Alumnae aus unserer Community und enthalten gegebenenfalls persönliche Meinungen. Diese müssen nicht immer mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.

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