Stipendium für Perspektivwechsel

Journalist:innen interviewen eine Frau
© Getty Images/South_agency

Im südwestlichsten Zipfel Polens, dem Dreiländereck zu Deutschland und Tschechien, erstreckt sich über Dutzende von Kilometern der Braunkohletagebau Turów. Obwohl der Europäische Gerichtshof 2021 einen Abbaustopp angeordnet hat, wird weiter gebaggert. „Ein riesiges Umweltproblem“, sagt Marta Thor, die derzeit über den umstrittenen Tagebau recherchiert: „Ich besuche Dörfer, die plattgemacht werden sollen, die Stadt Bogatynia, die wirtschaftlich vom Kraftwerk und der Grube profitiert, und Umweltaktivisten, die aus dem Gebiet einen Wind- und Solarpark machen wollen.“ Noch bis Ende Mai arbeitet die freie Journalistin als Stipendiatin der Internationalen Journalisten-Programme (IJP) in Breslau (poln. Wroclaw). „Ohne das Stipendium wäre eine so zeitintensive Recherche nicht möglich, freier Journalismus ist ja selten gut bezahlt“, sagt sie.

Um den internationalen Austausch zwischen Medien und Meinungsmachern zu fördern, bieten die IJP seit rund 40 Jahren Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit, für einige Wochen aus einem anderen Land zu berichten. Gefördert werden Stipendienaufenthalte bei Gastmedien in 45 Ländern weltweit, zum IJP-Netzwerk gehören mehr als 3.000 Alumni und Alumnae. Im Fokus der Programme für den Austausch mit Polen, mittelost- und südosteuropäischen Ländern steht die Berichterstattung über Klima- und Energiethemen, die Stipendien werden von der Europäischen Klimaschutzinitiative EUKI unterstützt. In Europa sei die Bedrohung durch den Klimawandel noch nicht so deutlich zu spüren wie in anderen Weltregionen, meint Marta Thor: „Darum ist es so wichtig, dass Journalistinnen und Journalisten den Leuten bewusst machen, wie groß die Probleme sind und dass sie etwas ändern müssen“.

Langfristige Netzwerke entstehen

„Dass man sich gegenseitig auf Themen aufmerksam machen kann, ist für beide Seiten sehr interessant“, sagt Martina Johns vom IJP-Vorstand. Was in Deutschland selbstverständlich sei, wie beispielsweise Mülltrennung, fänden viele ausländische Journalistinnen und Journalisten faszinierend. „Andererseits gibt es in Mittel-, Südost- und Osteuropa spannende Umweltprojekte, die wegen der Sprachbarriere bei uns kaum jemand kennt.“ Für die Geförderten sei es auch sehr interessant, die Bedingungen für die journalistische Arbeit in anderen Ländern zu erleben: „Oft sind die Fellows aus dem Ausland überrascht darüber, wie offen man in Deutschland über Probleme spricht und dass die Behörden der Presse bereitwillig Auskunft geben.“

Die Stipendien-Bewerberinnen und -Bewerber geben ein Wunschmedium in dem jeweiligen Land an, die IJP vermitteln die Kontakte. „Wir haben ja in Deutschland und im Ausland ein sehr gutes Netzwerk“, sagt Susanne Koch, die die Programme mit dem Schwerpunkt Klima-Berichterstattung koordiniert. Marta Thor, in Breslau geboren und in Südbaden aufgewachsen, wollte auch deshalb zu ihrem Gastmedium, der Gazeta Wyborcza, weil die renommierte Tageszeitung zu den wenigen regierungsunabhängigen Medien in Polen gehört. „Die Kollegen sind unglaublich hilfsbereit!“, freut sie sich. „Dieses Netzwerk wird mir noch sehr helfen, denn ich möchte auch in Zukunft über deutsch-polnische Themen berichten.“

Klimawandel: Globales Problem, regionales Interesse

Für den rumänischen Fernsehjournalisten Tiberiu Stoichici, der von Oktober bis Dezember 2021 als IJP-Stipendiat in Berlin und Bonn arbeitete, stand das Gastmedium von vornherein fest: Er dreht regelmäßig Beiträge für die Deutsche Welle in Bukarest. „Es war sehr schön, die Kolleginnen und Kollegen in Deutschland kennenzulernen!“, sagt Stoichici. Während seines Aufenthalts führte er unter anderem ein Interview mit der Bonner Oberbürgermeisterin über den geplanten Ausstieg der Stadt aus fossilen Energien bis 2035. Vorher hatte er sich nur wenig mit Umwelt- und Klimaschutz beschäftigt. In Rumänien sei das Interesse daran wegen der schlechten Wirtschaftslage vieler Menschen weit geringer als in Deutschland, meint der Fernsehjournalist: „Darum ist es nicht leicht, grüne Themen in den rumänischen Medien zu platzieren.“ Das Stipendium sah er als Chance, mehr darüber zu erfahren. „Tatsächlich sehe ich heute vieles anders“, meint er: „Auch wenn es große Worte sind: Es ist von Bedeutung, wie sich jeder Einzelne verhält! Jetzt versuche ich, andere davon zu überzeugen.“

Zur selben Zeit, als Tiberiu Stoichici nach Berlin reiste, ging Lisbeth Schröder mit einem IJP-Stipendium zur deutschsprachigen Allgemeinen Deutschen Zeitung in Bukarest. Die junge Wissenschaftsjournalistin hatte schon viele osteuropäische Länder bereist und in der Ukraine und Moldawien über Umweltthemen recherchiert. Aus Rumänien berichtete sie unter anderem über illegale Mülldeponien, die das Grundwasser gefährden – ein aus Deutschland importiertes Problem: „Kaum jemand weiß, dass große Mengen von deutschem Müll, vor allem Bauschutt und Plastikabfälle, nach Rumänien exportiert werden.“ Lisbeth Schröder hofft, dass journalistische Berichte dazu beitragen werden, diesen Handel zu beenden. Besonders beeindruckt haben sie die Treffen mit rumänischen Investigativ-Journalistinnen und -Journalisten: „Diese Gespräche haben mir noch stärker bewusst gemacht, wie wichtig investigative Arbeit ist.“

Über die Interviewpartner:innen

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