Karl Marx: „Das Kapital“ neu lesen

Marx und Engels´ Denkmal in Berlin
© Getty Images/m-1975

2018 feiert Karl Marx 200. Geburtstag. Seine Kritik am Kapitalismus scheint in Zeiten der Klimakrise, der chronischen Unterbeschäftigung und der globalen Ungleichheit besonders aktuell. Ein Grund für Mathias Greffrath zurückzuschauen und neu zu lesen.

Karl Marx – das ist zum einen der Geschichtstheoretiker, dessen Theoreme sich heute weitgehend durchgesetzt haben. Denn dass die Werkzeuge und die Produktionsweise einer Gesellschaft ihre politische und soziale Struktur bestimmen; dass menschliches Denken durch Werkzeuggebrauch und moralische Positionen durch Interessen geformt werden – diese Erkenntnisse, die Marx und Engels zusammengefasst und Historischen Materialismus genannt haben, haben Einzug in viele Einzelwissenschaften gehalten: in Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Religionswissenschaft, Rechtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Ingenieurs-  wie den Kognitionswissenschaften, um nur einige zu nennen.

Anders verhält es sich mit dem Kapital, dem Marxschen Hauptwerk. Einerseits hat kein sozialwissenschaftliches Werk in den vergangenen 150 Jahren die intellektuellen Debatten so sehr befeuert und eine so starke politische Wirkung gehabt. Die europäische Arbeiterbewegung, die bolschewistischen Revolutionäre, die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt – sie alle beriefen sich auf Marx’ Kapital, das nicht nur die Feinmechanik des Kapitalismus untersuchte, sondern sein Ende zu prophezeien schien. Genau deshalb aber wurde keine Theorie vom Mainstream der Wirtschaftswissenschaften so hartnäckig ignoriert, vor allem in den Jahren der globalen Systemkonkurrenz.

„DIE KAPITALISTEN SIND GETRIEBENE DES SYSTEMS“

Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges und im Zeitalter der Klimakrise, der chronischen Unterbeschäftigung, der globalen Ungleichheit, der Finanzspekulation, der Wachstumsschwäche reden längst nicht nur übriggebliebene Linke vom möglichen Ende des Kapitalismus. In der Wirtschaftswissenschaft grassiert das Wort von der , und auf dem Weltgipfel der Kapitalmächtigen macht der Satz die Runde: „Das kapitalistische System passt nicht mehr in diese Welt“.  

Mit dem Kapital erhebt Marx den Anspruch, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft“ entdeckt zu haben. Es ist zunächst ein Fortschrittsgesetz: Die kapitalgetriebene Wirtschaft hat – so wie es die Skizze des Kommunistischen Manifests prognostiziert – „massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle Generationen vor ihr“, sie hat Technik und Wissenschaft gefördert und den Weltmarkt geschaffen. Aber die Akteure dieser Wirtschaft, die Kapitalisten, sind Getriebene: bei Gefahr ihres Bankrotts müssen sie die Produktivkräfte entwickeln, die Innovation perpetuieren und so viel Leistung wie möglich aus den Arbeitnehmern herauspressen, die Rohstoffe dieser Welt so rationell wie möglich verarbeiten und in Waren verwandeln. So schafft der Kapitalismus die Voraussetzung für eine Welt ohne Mangel und Hunger. Aber unter dem systemischen Zwang zur Maximierung des Mehrwerts und zum Wachstum kann diese Produktionsweise den Reichtum der Gesellschaft auf lange Sicht „nur entwickeln, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“.

EIN MÖGLICHES ENDE DES KAPITALISMUS

Am Ende des Kapital skizziert Marx ein mögliches Ende dieser Geschichte: die Konzentration der Kapitale und die Dynamik der Globalisierung lassen die Kluft zwischen obszönem Reichtum und Elend ins Unerträgliche wachsen; das Privateigentum fesselt die befreienden Möglichkeiten, die in der Technik stecken. So kommt es zu Revolutionen und zur Vergesellschaftung der Produktivkräfte. Dieser politische Überschuss der Theorie hat lange Jahrzehnte vor allem in der Arbeiterbewegung die Erwartung der finalen Endkrise befördert. Aber ein Datum ist der Prognose eines revolutionären Ausgangs der Geschichte nicht beigegeben, schon deshalb, weil Marx’ Kritik der politischen Ökonomie auch die Gegenkräfte analysiert, mit denen das System der Kapitalverwertung sich immer wieder stabilisieren kann: Marktausweitung, technische Innovationen, Rationalisierung des Materials, verschärfte Ausbeutung, Globalisierung der Produktion und – nicht zuletzt: der Kredit als Wachstumspeitsche.

Über hundert Jahre hat die martialisch klingende Parole von der Vergesellschaftung oder gar einer proletarischen Diktatur bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler in die dogmatische Ablehnung von Marx' großen Leistungen als Makroökonom – so Hans-Werner Sinn – getrieben, vor allem seiner Beiträge zur Wachstums-, Krisen- und Globalisierungstheorie. Die Faszination, die von Marx’ Theorie des Kapitalismus ausgeht, entsteht zum einen durch die Fülle des historischen Materials, die in ihm ausgebreitet wird. Vor allem aber durch den umfassenden Blick auf den Wirtschaftsprozess: während die Modelle des wissenschaftlichen Mainstreams Wirtschaft im wesentlichen auf den Marktprozess reduzieren, werden in der marxschen Darstellung der Profitmechanismus, die Technologieentwicklung, die Arbeitsbedingungen, die sozialen Auseinandersetzungen und die kulturellen Folgen der Warenwirtschaft zusammengedacht zu einer großen plausiblen Erzählung der kapitalistischen Dynamik, bis hin zu ihrem möglichen Ende.

VON MENSCHEN GEMACHTE ZWÄNGE

Für den Blick des Kapitals kommen die Dinge und die Menschen dieser Welt nur vor, soweit sie profitabel sind: das ist eine Erfahrung, die 150 Jahre nach der ersten Auflage des Kapital auf verschiedene Weise gemacht wird, die höchst aktuell ist. Warum also das Kapital noch einmal lesen, wenn seine Prognosen in unserer Epoche so realitätsnah geworden sind? Wenn die Konzentration der großen Industrien, die Privatisierung der Kommunikationsnetze, die Industrialisierung der Agrikultur ihre politische Kontrolle nahelegen; wenn die Gemeingüter der Erde vor ihrer kapitalistischen Privatisierung geschützt werden müssen; wenn die Naturzerstörung nach globaler Kontrolle ruft – und wenn solche Forderungen kein politisches Tabu mehr sind? Und wenn ein undogmatisch verstandener Marx über abstrakte Zielformeln hinaus – rationale Verwaltung der Welt, gemeinschaftliche Kontrolle des Wohlstands, menschenwürdige, genossenschaftliche Produktion, Zeitwohlstand statt Konsumschwemme – wenig zur Herstellung des „Reiches der Freiheit“ sagt?

Der praktische Nutzen der „Kritik der politischen Ökonomie“ besteht darin, den Boden zu vermessen, auf dem wir stehen, und die Begriffe zu kritisieren, die uns den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘“ – das ist der erste Satz des Buches, und schon in ihm zeigt sich, was Kritik ist: die Spannung spürbar zu machen zwischen dem, was wir unter Reichtum verstehen (wollen) und seiner kapitalistischen Form. Das Kapital enthüllt die verdeckte Gewalt, die den Kapitalismus ins Leben rief, ebenso wie die wirklichen Quellen des Reichtums: die lebendige Arbeit, die Kooperation, die über Generationen gewachsenen Kenntnisse und Fähigkeiten einer Gesellschaft. Marx’ Systemtheorie zeigt, in welche Krisen und Katastrophen Gesellschaften treiben, wenn sie diese Wohlstandsquellen in die engen Kanäle der Kapitalverwertung pressen. Damit ist sie alles andere als fatalistisch oder mechanistisch. Am Ende der Lektüre steht die Erkenntnis, dass die Zwänge, denen wir unterliegen, von Menschen gemacht sind – und deshalb von Menschen verändert werden können. Und sie müssen verändert werden, wenn die Erde nicht zur Wüste und die Menschen nicht zu Anhängseln der Profitmaschine werden, wenn Gesellschaften nicht unter ihren Möglichkeiten leben sollen.

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Autor: Mathias Greffrath ist Schriftsteller und Journalist. Er schreibt unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“, „taz“ und „Die Zeit“.

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