Dem kritischen Denken verpflichtet

Statue des antiken Philosophen Platon in Athen © GettyImages / araelf

Dem kritischen Denken verpflichtet

Dr. Sarhan Dhouib, 1974 in Tunesien geboren, wusste bereits mit 14 Jahren, was ihn am meisten interessiert: das Denken, die Aufklärung, die Philosophie. „Meine Freunde und ich, die wir unter der Autokratie von Ben Ali aufwuchsen, sehnten uns nach einer neuen Welt – nach Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie“, erzählt Dhouib, seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim.

Heimlich steckten sich die tunesischen Gymnasiasten Taschenbücher mit kritischen Inhalten gegenseitig in die Manteltaschen, debattierten, entwickelten eine eigene kritische Sprache. In der Abiturphase hatte Dhouib sieben Unterrichtsstunden Philosophie pro Woche. „Die Lektüre von Kants ‚Was ist Aufklärung‘ war für uns Pflicht.“ Der Schüler setzte sich auch mit Ibn Khaldun, Voltaire, Rousseau, Hegel und Arendt auseinander. Er beschloss, dass ihn die deutsche Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts am meisten interessierte und dass er sie im Original lesen und erforschen wollte.

Deutsch gelernt mit Goethe

Erste Deutschkenntnisse eignete er sich während seines Philosophiestudiums an der Universität im tunesischen Sfax selbst an – unter anderem mit Hilfe deutsch-französischer Ausgaben der Werke von Goethe. „Das machte mich sehr sensibel für die Komplexität von Sprache und weckte mein Interesse an der Übersetzung philosophischer Texte“, so Dhouib. Das Übersetzen schule den Sinn für Differenzierungen, Wortschöpfungen oder Variationen und unterstütze so dabei, anderen Kulturen mit großem Respekt zu begegnen.

Nach dem Abschluss seines Lehramtsstudiums in Philosophie 1996 fasste Dhouib den Plan, in Deutschland über klassische deutsche Philosophie zu promovieren. „Das ist mein Leben“, erklärte er jedem, der sich über dieses Vorhaben wunderte. Denn die Hürden waren immens: Voraussetzung waren nicht nur zertifizierte exzellente Deutschkenntnisse, sondern auch ein Magister-Studienabschluss. Außerdem war schnell klar, dass das autokratische Regime Dhouib eine Karriere als Wissenschaftler verweigern würde. Stattdessen bekam er eine Stelle als Gymnasiallehrer auf der Insel Djerba. „Man drohte mir, wenn ich sie aufgebe, sei ich auf ewig gekündigt.“

Fürs Studium nach Paris gependelt

Dhouib nahm die Stelle an, gab sein Ziel aber nicht auf. Bereits vorher pendelte er zwei Jahre lang am Wochenende Hunderte Kilometer von Sfax nach Tunis, um im Goethe-Institut Deutschkurse zu besuchen. Zudem bewarb er sich an der Pariser Sorbonne, um den Magister-Abschluss zu erlangen. Im August 1998 konnte er mit Unterstützung des Goethe-Instituts einen Deutschkurs in Mannheim belegen. Zur selben Zeit kam die Zusage aus Paris. Zwei Jahre lang reiste er in seiner freien Zeit auf eigene Kosten nach Frankreich. Er schloss das Masterstudium mit Bestnote ab.

Doch noch immer reichte es nicht ganz für die Promotion in Deutschland. Es fehlten ein weiterer Sprachtest und ein betreuender deutscher Professor. Dhouib meldete sich erneut beim Goethe-Institut – und das Glück wollte es, dass dort in der Zwischenzeit sein Deutschprüfer aus Mannheim Leiter geworden war. Er erinnerte sich an den jungen Mann und bot Unterstützung an. Außerdem lernte Dhouib in Tunis auf einer Konferenz seinen späteren Promotionsbetreuer der Universität Bremen kennen.

Geprägt durch eine neue Diskussionskultur

Die nächste Etappe war ein viermonatiger Sprachkurs in Bonn. „Doch dann kamen die Terroranschläge vom 11. September 2001 und für mich als Tunesier gingen alle Türen zu“, erinnert sich Dhouib. Zwei weitere Jahre wurde sein Wille auf den Prüfstand gestellt. 2003 konnte er endlich nach Bonn reisen und erfuhr dort von der Möglichkeit, sich beim DAAD um ein Stipendium zu bewerben, das er schließlich auch erhielt.

Die Zeit in Bremen habe ihn tief geprägt, sagt Dhouib. „Das war für mich der Einstieg in die deutsche Diskussionskultur. Zum ersten Mal habe ich ohne Angst das Wort ergriffen.“ Wegen seiner Erfahrungen mit autoritärem Lehrstil war es für ihn ein großer Schritt, konstruktive Kritik auch an etablierten Denkerinnen und Denkern zu üben.

Dhouib wurde in Bremen promoviert und realisierte seitdem eine beeindruckende Anzahl von Forschungsvorhaben, Publikationen und Projekten. Die Titel werfen ein Licht auf seine Interessen neben der klassischen deutschen Philosophie: „Ethik der Globalisierung“, „Philosophie in der islamischen Welt“, „Philosophie im Vergleich der Kulturen“, „Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur“.

Zum Perspektivwechsel beitragen

Was Dhouib dabei stark beschäftigt, ist eine transkulturell orientierte Philosophie. „Es gibt eine gravierende asymmetrische Wahrnehmung“, erklärt er. „Deutsche Philosophie wird im arabischen Kontext selbstverständlich rezipiert. Umgekehrt aber findet die Rezeption von moderner arabischer Philosophie nicht statt oder wird von einer Perspektive dominiert, in der sich alles um den Islam dreht.“

Dhouib will dazu beitragen, das zu ändern. Für ein deutsches Standardwerk der Philosophiegeschichte konzipierte er einen Band mit, in dem die arabische Philosophie der Moderne kritisch abgebildet wird. „Diese Denker sind bisher nirgendwo in einer europäischen Sprache porträtiert“, sagt Dhouib, der für den im August 2021 erscheinenden Band die Schriften von 24 Autorinnen und Autoren übersetzt und kritisch dargestellt hat – mit Leben, Werk, Lehre, Wirkung sowie Primär- und Sekundärliteratur. „Wenn man anderen Kulturen gerecht werden will, muss man sehr differenziert sein.“

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